Radikale auf dem Mutschellen

  19.07.2022 Mutschellen

In der Sommerserie «Zeitgeschichte» beleuchtet die Redaktion verschiedene Ereignisse aus der Vergangenheit. Von 1991 bis 1994 machte die «Radikale Mutschellenfront» (RMF) mit verschiedenen Anschlägen auf Asylsuchende, Asylunterkünfte und kulturelle Institutionen von sich reden.

Bis zu 60Mitglieder, die sich regelmässig am Bahnhof Berikon-Widen trafen, zählte die «RMF». Spätestens nach 1994 löste sich die Gruppe wieder auf. Einige ihrer führenden Mitglieder engagierten sich später bei den «Hammerskins». Diese organisierten 1995 in Muri einen Anschlag auf eine Musikveranstaltung der Antifaschistischen Aktion in Hochdorf. Neonazis gab es auch danach noch, diese waren aber weniger stark organisiert. --rwi


Gewalt und Terror verübt

Sommerserie «Zeitgeschichte»: Radikale Mutschellenfront war von 1990 bis 1993 aktiv

Sie hatte bis 60 Mitglieder und verübte verschiedene Gewaltdelikte: die Radikale Mutschellenfront (RMF). Journalist Hans Stutz, Beobachter der rechtsextremen Szenen, erinnert sich an eine Zeit zurück, als Naziskins viele verunsicherten.

Roger Wetli

«Rechtsextreme verteidigten sich damals vor Gericht mit dem Argument ‹Wir führen aus, was viele Leute denken›», erinnert sich der Journalist Hans Stutz zurück. Über Jahrzehnte schrieb der heute 70-Jährige über diese Szene. Und befasste sich auch mit der Radikalen Mutschellenfront (RMF), die von 1990 bis 1993 aktiv war. Ein wichtiger Treffpunkt dieser jungen Männer war dabei der Bahnhof Berikon-Widen.

Delikte gegen Asylsuchende

Schlagzeilen machte die RMF mit verschiedenen Gewaltdelikten, die sich vornehmlich gegen Asylsuchende richteten. Ein paar Beispiele: Im Juli 1991 wurden bei zwei asylsuchenden Familien aus Jugoslawien in Widen die Fenster mit Steinen eingeworfen; am 15. Februar 1992 griff eine Gruppe Jugendlicher am Bahnhof Bremgarten einen Tamilen an; am 21. Februar 1992 erfolgte ein Anschlag auf ein Asylantenheim in Bremgarten.

Die Gewalt richtete sich aber nicht nur gegen Migranten. Am Wochenende des 7. und 8. Dezembers 1991 feierte die RMF zusammen mit ausländischen Gästen in Bremgarten ein Fest. Ein Teil davon zog anschliessend ins Casino, wo der Kulturverein ein Konzert veranstaltete. Die RMF verschaffte sich unter «Sieg Heil»- Rufen Zugang und verursachte bei einem der Veranstalter mit einem Schlagring Verletzungen am Kopf und Rippenbrüche. Die Gewalt der RMF ging so weit, dass gar «10 vor 10» des Schweizer Fernsehens am 10. April 1992 darüber berichtete. Der TV-Artikel erwähnte verschiedene Ereignisse. Sekundarschüler der Kreisschule Mutschellen äusserten dazu vor der Kamera ihr Unverständnis für die gegen alle Seiten gerichtete Gewalt der Radikale-Mutschellenfront-Mitglieder.

Auf Identitätssuche

«Die jungen Leute der rechtsextremen Szene arbeiten meist in handwerklichen Berufen», erklärt der Beobachter Hans Stutz. Er trat auch an einem Podium zum Thema «Brutalität aus purer Langeweile» auf, das Mitte April 1992 im Zeughaus-Saal in Bremgarten stattfand und unter anderem mit Rainer Huber (damals Gemeindeammann von Berikon), Agnes Weber (SP-Grossrätin, später Nationalrätin) und Psychiater Josef Sachs prominent besetzt war. Die Veranstaltung lockte rund 150 Interessierte an. Rainer Huber wies dabei auf die fehlenden Möglichkeiten der Jugendlichen hin, ausserhalb organisierter Vereine und Clubs ungebunden ihren Interessen nachgehen zu können. Josef Sachs analysierte: «Auf der Suche nach Identität bildeten sich offenbar Gruppen, die sich durch Provokation und Gewalt abheben wollen. Ziel dieser Aggression werden dann die Schwächsten, Ausländer und andere Randgruppen.»

Einen weiteren Grund für die Radikalisierung der Mutscheller Jugend sieht Hans Stutz in einer gesellschaftlichen Entwicklung: «Ab Mitte der 80er-Jahre betrieben rechte Politiker und die Boulevard-Zeitung ‹Blick› vermehrt Kampagnen gegen Asylbewerber, was zu einer zunehmenden Feindlichkeit gegenüber Asylbewerbern führte.» Erste Skinheads hätten sich aber bereits in der ersten Hälfte der 80er-Jahre im Umfeld der Fussballfans gebildet. «In der Schweiz entstanden dann die ersten Gruppen, zuerst um 1985 im Kanton Aargau die Neue Nationale Front (NNF), dann um 1988/1989 in Schaffhausen, Winterthur und Basel. Und in der Innerschweiz die Patriotische Front, angeführt von Marcel Strebel.»

«Um 1991 gründeten sich Gruppen wie die Radikale Mutschellenfront», so Stutz. «Diese trat sehr selbstbewusst und markant in der Öffentlichkeit auf.» Das ging so weit, dass aus der Gruppe eine eigene Zeitschrift mit dem Titel «Totenschläger» veröffentlicht wurde, die mindestens dreimal erschien. Immer häufiger berichteten Medien über die RMF. «Die Empörung über diese gewaltbereiten jungen Männer wurde gross – und damit stieg der Druck auf diese Akteure, dieser zeigte Wirkung. Die RMF-Aktivitäten nahmen ab», erklärt Hans Stutz.

Gewaltbereitschaft blieb

Nicht alle Mitglieder der Radikalen Mutschellenfront lösten sich danach von ihrem Gedankengut. «Einzelne engagierten sich später bei den ‹Hammerskins› und nahmen da auch Führungsfunktionen wahr», weiss der Beobachter. Ein Hammerskin aus Berikon betrieb längere Zeit das Nationale Infotelefon, das via Anrufbeantworter Szene-Neuigkeiten und Hinweise auf Veranstaltungen verbreitete. Hans Stutz berichtet auch von einem Vorfall am Samstag, 4. November 1995, in Hochdorf. Damals überfielen 55 Skinheads eine Musikveranstaltung der Antifaschistischen Aktion Luzern und verursachten Verletzte und Sachschäden. «Zur Vorbereitung trafen sich Hammerskins zwei Tage zuvor in Muri in einem Lokal, das von einem ehemaligen RMF-Mitglied betrieben wurde. Die Freundinnen der Skinheads durften bei diesem Überfall nicht dabei sein, einige von ihnen trafen sich zeitgleich auf dem Mutschellen.»

Verschwand die Radikale Mutschellenfront bald wieder, erlebte das rechtsextreme Gedankengut in den 2000er-Jahren neuen Auftrieb. «Die Szene konnte in dieser Zeit viele Leute mobilisieren, wenn auch viele Konzertbesucher in keiner Gruppe organisiert waren», blickt Hans Stutz zurück. «Generell kamen in den 2000er-Jahren viel mehr Leute an solche Anlässe als in den 90er-Jahren.» So fand zum Beispiel am 1. August 2002 in Affoltern am Albis mit über 1000 Anwesenden das bis dato grösste Neonazi-Konzert statt, organisiert von den Schweizer Hammerskins. Erst 2016 fand im Toggenburg eine grösseres Konzert statt, besucht von Leuten, die bereits längere Zeit dem Jugendalter entwachsen waren. Und Hans Stutz betont: «Es gab zwar immer noch in der Region Mutschellen und Muri einige Rechtsextreme. Diese traten allerdings nicht mehr als Gruppe auf, so wie es die Radikale Mutschellenfront tat.»

Die radikale Jugendbewegung hinterliess schliesslich eine Institution, die es bis heute auf dem Mutschellen gibt. So entstand laut den den «Beriker Chleeblättern» von 2011 als Folge der RMF in der 90er-Jahren die Jugendarbeit Mutschellen. Die Forderung nach solchen Freiräumen wurde am Podium Mitte April 1992 explizit durch Jugendliche gestellt und später umgesetzt.


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