Ungünstige Dynamik
23.09.2022 KelleramtDie Kellerämter Familienvereine luden zum Vortrag über Mobbing ein
Mobbing bedeutet einen systematischen Ausschluss aus der Gruppe. Dieser soziale Konflikt ist nicht zu unterschätzen: Eine solche Erfahrung kann bei Betroffenen ein lebenslanges Trauma hinterlassen. Fachpsychologe und Mobbing-Interventionist Walter Minder klärte auf, wie Mobbing entstehen kann und wie mit dem Opfer, aber auch den Tätern, umzugehen ist.
Celeste Blanc
Die Zweitklässlerin Anna hat eine besondere Eigenheit: Sie hält sich stark an Regeln. Diese Regelkonformität zeigt sie auch in der Schule. Sogar ihre Mitschüler ermahnt sie, wenn diese sich nicht an die Regeln halten. Wer nichts auf Regeln gibt, ist ihre Mitschülerin Sandra. Sie macht, worauf sie Lust hat. Sandra ist beliebt, hat viele Freunde und ist dadurch sozial sehr gut vernetzt. Anna im Gegenzug hat nur wenige Freunde.
Diese Konstellation beherbergt Konfliktpotenzial. Und dieser explizite Konf likt ist zu Mobbing ausgewachsen. Es ist eines von vielen Beispielen, die Fachpsychologe Walter Minder aus seinem Praxisalltag den zahlreich erschienenen Anwesenden präsentiert. Konflikte, die zu Mobbing führen können, sind unberechenbar und können plötzlich auftreten. «Es gibt keine genauen Regeln, wieso Mobbing auftritt. Es ist ein sozialer Konf likt, der hauptsächlich aus einer ungünstigen Gruppendynamik resultiert», erklärt Psychologe Walter Minder.
Rufschädigung ist Ziel des Mobbings
Dass Menschen Gruppen bilden, liegt in ihrer Natur. «Wir sind soziale Wesen, die den sozialen Anschluss brauchen», so Minder weiter. Gleichzeitig ist der Mensch mit Empathievermögen ausgestattet. «Wir besitzen also im gleichen Zug die Fähigkeit, Integration zu betreiben. Oft regulieren sich die Gruppen von alleine, ohne Konf likte. Beim Mobbing ist diese Eigenschaft aber gestört. Es gibt ein Spannungsfeld.»
Typisch für Mobbing ist, dass eine Person von einer Gruppe ausgeschlossen wird. Alltagskonflikte können nicht gelöst werden. Auch wenn es möglich wäre, den Konflikt zu lösen, zeichnet sich diese Form durch sogenannte «Mobbing-Rituale» aus: Um jeden Preis wird dann versucht, den Konf likt aufrechtzuerhalten. «Egal, was das Opfer-Kind dann unternimmt: Die Gruppe wird immer einen Grund finden, wieso der Ausschluss gerechtfertigt ist», weiss Minder. Der Konflikt wird dadurch zum Dauerzustand. Dabei verfolgt das Mobbing eine besonders perfide Absicht. «Ziel des Mobbings ist immer die Rufschädigung.» Es gehe hauptsächlich darum, eine negative Einstellung gegenüber dem Opfer zu manifestieren und zu verbreiten.
Liebevolle Strenge und Vorurteile widerlegen
Das passiert auch bei Anna. Mittlerweile ist der Konflikt mit Sandra ausgewachsen. Angefeuert wird der Konf likt einerseits dadurch, dass Anna für ihr vorbildliches Verhalten gelobt wird. Andererseits haben sich auch die Eltern eingeschaltet. Das hat eine Grundsatzdebatte über den Erziehungsstil zur Folge. «Laissezfaire» gegen regelorientierte Erziehung. Diese Einstellung der Eltern gegenüber dem «anderen Kind» kann das eigene Kind beeinflussen. «Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass die Einstellung der Eltern zu Mobbing auf die Kinder abfärbt», so Minder.
Walter Minder wird als Fachpsychologe dann gerufen, wenn der Konflikt ausgeartet ist. Mit einer Mobbing-Intervention versucht er, unter Einbezug der Eltern, der Schulsozialarbeit und der Lehrerschaft eine Verbesserung der Situation hervorzurufen. Vor allem die Arbeit mit den Eltern sei in diesen Momenten wichtig. «Eltern können in heissen Phasen mehr Schaden anrichten, als dass sie den Konflikt schlichten», weiss der Psychologe. Hauptfehler sei es, direkt auf das Täter-Kind und seine Eltern zuzugehen. «Das bietet zusätzliches Konfliktpotenzial, das sich auf die Einstellung gegenüber dem Opfer-Kind hauptsächlich negativ auswirken kann.» Minder rät, behutsam und geduldig mit der Situation umzugehen: So sollte man die Lehrerin auf die Situation aufmerksam machen oder den Kontakt zur Schulsozialarbeit suchen. «Diese können dann beobachten und einen Lösungsplan erstellen.»
Auch rät er Eltern von Täter-Kindern, sofern die Situation, beispielsweise durch Gewalt, nicht eskaliert, mit liebevoller Strenge anstelle von Bestrafung zu ahnden. Denn die Kinder haben meist einen Grund, wieso sie sich so verhalten. Bei Mobbing werde die Realität unterschiedlich definiert. Denn auch für die Täter-Kinder bestehe ein Konflikt, den sie nicht lösen können. «Es geht nicht darum, die Tat unbestraft zu lassen. Aber man muss sich die Gründe anhören, wieso ein Kind so handelt. Erst dann ist es möglich, dem Kind sein Verhalten vor Augen zu führen. Vor allem junge Menschen haben eine enorme emotionale Flexibilität, um ihre Einstellung zu ändern.» Hauptziel sei es dann, neue Erfahrungen mit dem Opfer-Kind zu schaffen und die Vorurteile der Gruppe dadurch zu widerlegen.
Mobbing passiert oft aus einem Zufall heraus
Erst wenn eine Gruppendynamik nicht aufgelöst werden kann, folgt ein Klassenwechsel. Bei einer solchen Massnahme wird das Kind eng begleitet. «Sie dient ausschliesslich dem Schutz des Kindes. Eine neue Gruppe kann sehr positive Auswirkungen haben.» Denn die Gefahr, in der ursprünglichen Umgebung in alte Muster zu fallen, ist gross. Auch Kinder, die sich nicht aktiv am Mobbing beteiligen, fördern das Umfeld insofern, als es akzeptiert wird. «Diese setzen sich aus Angst vor dem sozialen Ausschluss nicht für das Opfer-Kind ein. So kann das System bestehen bleiben.» Ist ein solcher Schritt erfolgt, wird gleichzeitig auch mit dem Täter und der Gruppe weitergearbeitet. Meistens würden Konflikte, wenn ihnen ein wesentliches Element fehlt, von alleine verschwinden. «Aber da muss man natürlich genau beobachten, wie sich die Gruppe entwickelt.»
Dass das Thema Mobbing beschäftigt, zeigte sich auch bei den Anwesenden. «Muss man sich Vorwürfe machen, wenn man nicht realisiert hat, dass das Kind ein Täter ist?», wollte eine Anwesende wissen. Für Walter Minder ein klares «Nein». Mobbing sei oft dem Zufall geschuldet, weil es keine Kompatibilität zwischen den Individuen gibt. «Grundsätzlich geht es dem Haupttäter selten um das Opfer. Es geht darum, soziale Anerkennung in der Gruppe zu bekommen. Und das ist ein natürlicher Wesenszug des Menschen», schliesst Minder.
Um Mobbing an den Schulen vorzubeugen, gibt es in den Kellerämter Schulen bereits verschiedene Präventionsmassnahmen, die von Schulsozialarbeiterin Barbara Keller präsentiert werden. Hauptbestandteil sind je nach Klasse verschiedene Module, die hauptsächlich dem Training der Sozialkompetenz dienen. Zusätzlich wird Cybermobbing aufgeklärt und die Kinder im Projekt «Streitschlichter» in ihrer Empathie geschult. Sie sind dann für jüngere Mitschüler Ansprechperson in Konfliktfällen.