Plattenfirmen am Pokern

  05.06.2020 Kelleramt

Ex-Musiklabel-Chef Alec von Tavel sieht die Branche in der Pflicht

30 Jahre lang veröffentlichte Alec von Tavel aus Unterlunkhofen unter dem Namen «Disctrade AG» Musik. Die Branche ist seit langer Zeit unter Druck. Die Pandemie verstärkt die schwierige Situation noch zusätzlich.

Roger Wetli

«Der Musikkonsum ist seit dem Shutdown gestiegen, doch die Einnahmen durch Streamings und Tonträgerverkäufe sind etwa gleich geblieben. Die Verdienstmöglichkeiten durch Auftritte sowie Merchandiseverkäufe sind völlig weggebrochen», weiss Alec von Tavel. Von 1980 bis 2010 betrieb er ein sehr erfolgreiches eigenes Label und war lange Jahre Mitglied im Vorstand des internationalen Branchenverbands der Musikindustrie «IFPI».

Unbeschränkt konsumieren

Zu etwa 30 Prozent seiner ehemaligen Mitstreiter pflegt er bis heute regelmässige und gute Kontakte. Für die verschärfte Situation seien die grossen Plattenfirmen zumindest teilweise selber verantwortlich. «Sie haben es verpasst, mit der zunehmenden Entwicklung des Internets legale und zahlungspflichtige Musik anzubieten. Stattdessen haben sie das Feld branchenfremden Firmen wie Apple und Spotify überlassen.» Dort zahlt man bestenfalls eine Monatsgebühr, und darf dafür unbeschränkt Musik konsumieren. «Es ist paradox. Aktuell haben die Leute aufgrund von Kurzarbeit mehr Zeit, sich Lieder anzuhören, die Künstler und Labels verdienen dadurch aber keinen Rappen mehr.»

Branche unter Druck

Seit den 90er-Jahren ist die Bedeutung der Einnahmen durch Konzerte für die Branche immer wichtiger geworden, weil die Einnahmen durch Tonträgerverkäufe zurückgingen. «Früher schickte man eine Band auf Tour und Plattenfirmen subventionierten Konzerte, um die Verkäufe von Tonträgern zu fördern. Heute ist eine CD ein Mittel, um Aufmerksamkeit zu generieren und damit mehr Leute an die geplanten Konzerte zu bringen. Dort und mit Merchandise-Artikeln wie T-Shirts und Schals verdient man Geld und holt einen wichtigen Teil der Kosten der Tonaufnahmen wieder herein», erklärt von Tavel. Die Ticketpreise hätten sich seit 1980 deshalb fast verzehnfacht. «Deshalb trifft das Verantstaltungsverbot die Branche besonders stark.»

Jetzt veröffentlichen oder nicht?

Die verschobenen Konzerte führten dazu, dass viele Bands wie unter anderem Deep Purple die Veröffentlichung ihrer neuer Tonträger verschoben haben. «Jene, die für diesen Frühling und Sommer vorgesehen waren, kommen jetzt im Herbst, Winter oder gar ein Jahr später als ursprünglich geplant heraus», weiss von Tavel. «Die Plattenfirmen pokern um die Aufmerksamkeit der Medien und damit um den Support der Konzerte.»

Für den ehemaligen Label-Chef ist dieses Vorgehen gefährlich. «Es staut sich aktuell vieles auf. Wenn plötzlich alles gleichzeitig kommt, wird der Platz in den verschiedenen Medien knapper.» Mit «Disctrade AG» veröffentlichte Alec von Tavel Tonträger von Künstlern und Gruppen wie Frank Zappa, Toto, Angy Burri, Metallica oder Motörhead, baute aber auch viele kleinere Bands auf. «Meist habe ich den Zeitpunkt der Veröffentlichung nach Bauchgefühl entschieden. Mit unbekannteren Künstlern bin ich oft im Januar oder in den Sommerferien auf den Markt gekommen.» Dort seien eine Art «Musiklöcher». Die Strategie, mit dem Timing gegen den Strom zu schwimmen, habe sich meist bewährt.

Er rät deshalb Künstlern, auch jetzt ihre Tonträger zu veröffentlichen. «So hat es auch Steff La Cheffe gemacht, die jetzt dank weniger Konkurrenz viel mehr Aufmerksamkeit erhielt.» Natürlich bestehe die Gefahr, dass bei einer späteren Tournee die Werbung fehle. «Anderseits braucht es heute für Konzerte nicht mehr zwingend einen Tonträger als Auf hänger. Auch ein etablierter Name, ein tolles Video oder die Präsenz in den sozialen Medien hilft.»

Qualität wird nicht mehr gehört

Durch die fehlenden Konzerte habe für ihn der Wert von Tonträgern noch zugenommen. «Ich bin aber unsicher, ob das für alle gilt.» Alec von Tavel sieht in der aktuellen Krise die Chance, dass Künstler und Labels mit den Hörern noch näher in Kontakt treten. John Fogerty, der Ex-Leader und Leadgitarrist von «Creedence Clearwater Revival», spiele zum Beispiel seine Hits aktuell zusammen mit seiner Familie zu Hause und stelle sie auf Youtube. «Das gibt unglaublich intime Einblicke. Solche Videos stärken die Musiker-Fan-Beziehungen. Das wird sich mittelfristig auszahlen.» Die Labels würden dies deshalb anstossen und begrüssen.

Ob sich dadurch allerdings der Wert der aufgenommenen Musik wieder steigern lasse, werde sich erst zeigen. «Das Problem war schon vor dem Lockdown da. Die wenigsten Personen besitzen heute noch Musikanlagen zu Hause, auf denen sie die Unterschiede zwischen komprimierten MP3s und qualitativ hochstehenden LPs oder CDs bemerken», so von Tavel. Die Situation für die Labels sei sowieso schwierig. «Ich hörte deshalb vor zehn Jahren schweren Herzens auf, weil es zunehmend mühsamer wurde, als Plattenfirma überhaupt noch Geld zu verdienen.» Die Pandemie treffe die ganze Branche, nicht nur die Musiker, welche in aller Regel keine hohen Fixkosten, Mieten und Mitarbeiterlöhne bezahlen müssen und wenigstens teilweise noch durch Unterrichten und andere Nebenjobs überleben könnten.

Lang anhaltender Schaden

Von Tavel rechnet damit, dass der Schaden des Lockdowns wohl noch länger anhalten wird. «Sobald Konzerte wieder erlaubt werden, wird wohl wie in der Gastronomie ein Teil der Bevölkerung aus Angst vor einer Corona-Ansteckung trotzdem zu Hause bleiben.» Die Labels müssten sich aber auch unabhängig von der Pandemie neu erfinden. «Ich wünsche mir, dass ihnen das gelingt und viele ehemalige Plattenfirmen als Musikdienstleister und Musiklieferanten überleben.»


Image Title

1/10

Möchten Sie weiterlesen?

Ja. Ich bin Abonnent.

Haben Sie noch kein Konto? Registrieren Sie sich hier

Ja. Ich benötige ein Abo.

Abo Angebote