«Mit 40 wurde ich Kindergärtnerin»

  07.08.2020 Dintikon

«Erlebt – Senioren erzählen von früher» mit Margrit Müller aus Dintikon/Villmergen

Margrit Müller ist Dintikerin mit einem engen Bezug zum Freiamt. Ein Schicksalsschlag zwang sie, mit 40 Jahren nochmals umzusatteln. Doch davon lässt sie sich nicht unterkriegen.

Chantal Gisler

Anfangs ist Margrit Müller etwas schüchtern. Sie ist ein fröhlicher Mensch, der gerne andere Menschen um sich hat. Langeweile mag sie nicht. Sie bastelt gerne, ihre Hände wollen Beschäftigung. Aktuell macht sie Grusskarten, verziert und dekoriert sie. Das macht ihr Spass. Ebenfalls viel Spass macht es ihr, von ihren Urenkeln zu erzählen. Sie hat viele Bilder von ihnen auf ihrem Tisch. Kinder sind das Schönste, weiss die ehemalige Dottiker Kindergärtnerin.

Ich bin in Dintikon geboren und aufgewachsen. Ich ging dort in die Primarschule, die Bezirksschule besuchte ich in Wohlen. Damals gab es keinen Kindergarten, wir sind direkt in die Primarschule gekommen. Ich bin 32erin, aber ich wurde mit den 33ern eingestuft. Oft mussten wir von der Schule aus den Bauern helfen, die «Maichäber» und die «Kartoffelchäber» loszuwerden. Klassenweise gingen wir zu den Bauern. Bei den Maikäfern spannten wir ein Tuch unter einen Baum und schüttelten ihn. Dann sammelten wir die Käfer in einer grossen Kanne, wo sie mit heissem Wasser getötet wurden. Manchmal verfingen sich die Käfer in den Haaren. Ich mag sie bis heute nicht. Die Kartoffelkäfer mussten wir von den Pflanzen sammeln und ebenfalls in grossen Kannen den Bauern bringen. Wer schwänzte, durfte nicht auf die Schulreise gehen. Ich machte die Lehre als Damenschneiderin in Dottikon. Dann traf ich Kurt. Ich war im Aarauer Kantonsspital, um mich operieren zu lassen. Kurt war etwas älter als ich und ebenfalls aus Dintikon. Ich kannte ihn vom Sehen her. Er arbeitete damals in Aarau und kam mich besuchen. Er sagte, dass er gehört habe, dass ich hier liege. Daraus wurde eine Freundschaft und schliesslich mehr. Er war ein guter Mann, ein ruhiger. Löwe. Er war immer geduldig und wurde nie sauer. Aber ein Schütze mag ihn da schon schiessen. Wir heirateten am 7. Februar. 65 Jahre waren wir verheiratet. Genau einen Monat nach unserem Hochzeitstag ist Kurt gestorben. Das ist jetzt zwei Jahre her. Ich habe vier Urenkel. Einer fragte mich: Urgrossmami, wo ist denn Urgrosspapi? Ich sagte ihm, dass er bei den Engeln ist. Erst vor Kurzem ist der vierte Urenkel auf die Welt gekommen, darüber freue ich mich sehr.

Margrit Müller sitzt im Rollstuhl. Vor drei Jahren hatte sie einen Hirnschlag, der ihre linke Seite lähmte. Doch die 88-Jährige ist eine Kämpferin. Nach und nach ist das Gefühl in den Körperteilen zurückgekommen. Nur das Knie, das will noch nicht.

Kurt und ich wollten eine eigene Bäckerei-Confiserie in der Nähe von Olten übernehmen und unser eigenes Geschäft aufbauen. Kurt verdiente damals 172 Franken. Das war nicht viel. Mein Vater meinte, wir sollen doch ein eigenes Geschäft eröffnen. Er bürgte auch für uns. Kurz bevor wir das Geschäft übernahmen, sagte ich zu Kurt: Wir sollten heiraten. Denn als unverheiratetes Paar ein Geschäft übernehmen, das wäre komisch. Und die Leute würden über uns reden. Ausserdem hätten wir mit dem Geschäft keine Zeit mehr, um zu heiraten. Das Ja-Wort gaben wir uns in der Kirche in Ammerswil. Wir haben drei Kinder und wir haben hart in der Bäckerei gearbeitet. Damals gab es noch keine Pampers-Windeln. Man musste sie waschen und trocknen. Manchmal, da war ich bis Mitternacht am Windelnwaschen und um halb vier stand ich wieder auf, um in der Bäckerei zu arbeiten. Ich machte Nussstängel und Zimtschnecken, knetete Teig. Mir machte das nichts aus. Aber Kurt erlitt mit 36 Jahren einen Hirnschlag. Der Arzt sagte ihm, dass er nicht mehr bei der grossen Hitze arbeiten darf. Mit 40 Jahren machte ich ein Seminar zur Kindergärtnerin. Ich nahm eine Stelle beim Dottiker Kindergarten an. 13 Jahre war ich dort tätig, ein Jahr in Dintikon. Wir zogen aus dem Kanton Solothurn nach Rupperswil. Später bauten wir ein Haus in Dintikon. Kurt pflanzte 250 Reben, aus den Trauben konnten wir Wein machen. Das Haus steht auf dem Hügel. Wir haben ein Bassin. Ich würde gerne wieder nach Hause, aber ich kann nicht gehen. 2017 hatte ich einen Hirnschlag. Kurt und ich sahen fern und ich wollte mir ein Glas Wasser holen. Er fragte mich noch, ob er es holen soll, aber ich sagte, es sei schon gut. Dann bin ich zusammengebrochen. Ich wurde im Spital wach. Eine Krankenschwester kam zu mir ans Bett und fragte: Frau Müller, kennen Sie mich noch? Ich kannte sie nicht. Dann sagte sie: Ich war bei Ihnen im Kindergarten. Da ging für mich die Sonne auf.

Ein Ereignis, das Margrit Müller nie vergessen wird, war die Explosion in der Sprengstoff-Fabrik in Dottikon. Zwar lebten Margrit und Kurt Müller in Dintikon, doch kilometerweit waren die Auswirkungen zu spüren. Müller erinnert sich genau an diesen 8. April 1969.

Die Explosion der Dottiker «Pulveri» war sehr weit zu hören. Es gab einen gewaltigen Chlapf. Kurt und ich wollten an diesem Tag nach Thun, um mit Freunden einen Kaffee zu trinken. Durch die Explosion wurde eine 25 Kilogramm schwere Metallstange in unseren Garten geschleudert. Die Fenster waren zerbrochen. Unsere Haustür ausgerissen. Das grosse Fenster in der Stube war kaputt. Kurts Bruder arbeitete damals in der «Pulveri». Wir sagten den Freunden ab, denn wir mussten wissen, ob es seinem Bruder gut ging. Den grossen Feuerball hat man weit gesehen. Ich habe ihn sogar fotografiert. Schliesslich kam Kurts Bruder nach Hause. Sein Hemd war blutig, seine Haut hatte Risse. Aber es ging ihm gut. Zum Glück. Zwei seiner Kollegen im Labor haben das Unglück nicht überlebt.

Über die unglücklichen Zeiten möchte Margrit Müller nicht nachdenken. Sie will sich auf das Schöne im Leben fokussieren. Seit drei Jahren lebt sie in der Oberen Mühle in Villmergen. Es ist ein schöner Ort, sagt sie. Ihr gefällt es hier, die Menschen hier sind sehr freundlich. Aber sie ist eben ein Familienmensch. Am liebsten würde sie zurück in ihr Haus in Dintikon. Aber dazu muss sie gehen können. Jeden Tag arbeitet sie daran, steht auf und trainiert ihr Knie. Immer weiter, bis sie wieder gehen kann.


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