Jeder hat eine Chance verdient
17.08.2022 MuriSerie «Leben mit Handicap»: Patrick Nöthiger hat mit seiner Lernbehinderung schon viel erreicht
Patrick Nöthiger hat in seinem Leben mit einer Lernbehinderung schon viel erreicht. Für ihn ist das nichts Besonderes, denn eigentlich sollte es selbstverständlich sein, dass das Umsetzen eigener Ideen und Projekte eines Menschen mit Behinderung kein Widerspruch ist.
Susanne Schild
Als Jugendlicher ist es ihm schwergefallen, sich so anzunehmen, wie er ist. «Es zu akzeptieren, war nicht immer leicht und ein langer Prozess», sagt der 38-Jährige. Heute hat er viele seiner Ziele erreicht. Er hat eine abgeschlossene Lehre als Unterhaltspraktiker EBA und arbeitet seit zehn Jahren im Alterswohnheim St. Martin in Muri. «Ich war sehr stolz, als ich mein Diplom mit der Bestnote 5,5 in der Hand hielt. Mit so einem Erfolg hätte ich nicht gerechnet. Ich bin schliesslich jahrelang nicht mehr zur Schule gegangen.» Patrick Nöthiger ist zufrieden. Und das sieht man ihm an.
Als er 2017 seine Ausbildung startete, ging für ihn ein Traum in Erfüllung. Für ihn steht fest, dass Menschen mit Beeinträchtigung keine Beschützer brauchen, sondern gleiche Rechte. Nur dann sei der Sprung auf den normalen Arbeitsweg und in ein selbstständiges, eigenverantwortliches Leben zu schaffen. «Ich will keine Sonderbehandlung. Überall passieren Fehler und auch ich mache welche. Das ist menschlich.» Wichtig sei, daraus zu lernen, egal ob mit Beeinträchtigung oder ohne.
Als Jugendlicher ausgegrenzt
Er erinnert sich noch genau an seine Schulzeit. Patrick Nöthiger besuchte wegen seiner Lernbehinderung das Schulheim Friedberg, Seengen. «Damals wurden Kinder mit Beeinträchtigungen noch nicht in Normalklassen integriert.» Nur beim Kochunterricht war er mit einer Normalklasse zusammen. «Dort wurde ich aber ausgegrenzt, da ich langsamer war und mit dem Lerntempo der anderen nicht mithalten konnte. Das hat mich getroffen. Da wurde es mir zum ersten Mal so richtig bewusst, dass ich anders als die anderen bin.»
Vielleicht, so entschuldigt er das Verhalten seiner Mitschülerinnen und Mitschüler, sei man damals einfach nicht gewohnt gewesen, mit Menschen, die anders sind, konfrontiert zu sein. In den 90er-Jahren sei es schon anders als heute gewesen. «Mit der Schule und auch sonst mit der Akzeptanz von Menschen mit Beeinträchtigung. «Obwohl gerade in den letzten fünf Jahren bezüglich Inklusion viel passiert ist, gibt es noch viel zu tun.» Er selbst habe die Erfahrung gemacht, dass Arbeitgeber, wenn sie seine Bewerbungsunterlagen durchlasen und das Wort «Sonderschule» sahen, ihm aufgrund dessen keine Chance gegeben haben. «Jeder Betrieb sollte mindestens einen kleinen Anteil von Menschen mit Beeinträchtigung beschäftigen. Ihnen eine Chance geben», so sein Wunsch.
Oftmals würde man Menschen mit Beeinträchtigung unterschätzen, nicht wissen, zu was sie fähig sind. «Ich bin sehr froh, dass mir diese Chance in Muri gegeben wurde.»
Willensstärke und Leistung kann jeder zeigen
«Im Erwachsenenalter konnte ich mich so annehmen, wie ich bin. Es war ein Prozess. Das geht nicht von heute auf morgen.» Heute steht er zu seinem Handicap und ist stolz auf das, was er bisher in seinem Leben erreicht hat. «Eigentlich sollte es selbstverständlich sein, dass das Umsetzen eigener Ideen und Projekte eines Menschen mit Behinderungen kein Widerspruch ist.» Aber leider sei es für viele anscheinend immer noch nicht normal, Willensstärke und Leistung mit behinderten Menschen zu verbinden.
Frustrierend sei auch gewesen, dass er seinen Berufswunsch Mechanikpraktiker nicht verwirklichen konnte. «Ich habe geschnuppert und mich vorgestellt. Aber jedes Mal erhielt ich eine Absage. Das war frustrierend.» Begründet wurde es immer damit, dass er mit dem schulischen Weg überfordert wäre, da das Lerntempo dort einfach zu schnell für ihn sei. «Das war für mich sehr schwer zu akzeptieren.»
Seine erste Lehre zum Kleingerätewart machte er in einer Vebo-Einrichtung. Die Vebo ist eine Institution zur beruflichen und sozialen Eingliederung von Menschen mit einer gesundheitlichen Beeinträchtigung. «Unser Hauptkunde war damals Saeco. Ich schraubte Kaffeemaschinenboiler auseinander, reinigte sie und baute sie wieder zusammen.» Drei Jahre hat die Lehre gedauert. «Doch auch während dieser Zeit habe ich immer wieder nach einer Mechanikpraktiker-Lehrstelle gesucht. Ich wollte meinen Traum nicht aufgeben.» Nach dem Abschluss seiner Lehre entdeckte er durch ein Schnupperpraktikum seine Leidenschaft für den Hauswartsberuf. «Die Reinigungsmaschinen und die Gartenarbeit haben mich fasziniert.»
Seit 2003 arbeitete er ununterbrochen ohne Ausbildung im Hauswartsberuf, davon sieben Jahre bei der Integra Wohlen. 2011 wechselte er nach Muri. «Auch hier habe ich meinen Wunsch geäussert, eine Lehre in dem Beruf zu machen. 2017 wurde mir dieser erfüllt.»
Grosse Unterstützung durch die Familie
Seine Familie hat ihn immer in allem unterstützt. Auch zu seiner zweieinhalb Jahre jüngeren Schwester hat er einen sehr guten Kontakt. «Wir verstehen uns sehr gut. Immer wenn wir uns treffen, geniessen wir es sehr.» Ein grosser Einschnitt im Leben seiner Eltern war sein Auszug. «Sie haben mich zwar in meinem Vorhaben unterstützt, doch es fiel ihnen schwer, sich das vorzustellen.» Für Patrick Nöthiger hingegen war es nichts Neues. Während seiner ersten Ausbildung hatte er bereits in einem Wohnheim gelebt. «Da habe ich alles drei Jahre lang gelernt. Ich kann putzen, kochen und meine Wäsche machen.» Seit seinem Auszug ist das Verhältnis zu seinen Eltern viel ruhiger und ausgeglichener. «Sie sehen, dass ich mein Leben sehr gut selbst meistern kann, und sind stolz auf mich.»
Sehr viele positive Reaktionen
Seine Behinderung hat Patrick Nöthiger nicht darin behindert, seine Ideen und Ziele umzusetzen. «Ich war und bin sehr ehrgeizig.» Natürlich sei man teilweise mit Ablehnung, Mitleid und Unsicherheit konfrontiert. Doch die skeptische Haltung Aussenstehender habe sogar noch für einen Energieschub gesorgt. Aber grösstenteils seien die Reaktionen positiv gewesen.
«Äusserlich sieht man mir mein Handicap nicht an. Ich brauche einfach mehr Zeit, um etwas zu lernen oder meine Arbeit zu machen. Dafür bin ich äusserst gewissenhaft und genau.» Wenn Menschen mit Beeinträchtigung zu einem selbstverständlichen Teil der Gesellschaft werden, könne man viel voneinander lernen, ist Nöthiger überzeugt. Wichtig sei vor allem, dass man das machen und tun kann, was man eben kann und was man tun möchte. «Egal ob mit Beeinträchtigung oder ohne. Man muss nur sehen, dass wir auch vielseitige, selbstbewusste und aktive Köpfe sind, die weit mehr ausmacht als ihr Handicap», ist Patrick Nöthiger überzeugt.