Geschichten, die das Leben schrieb

  16.06.2020 Wohlen

«Mal schauen»: Johannes Ludin hat ein Buch über seine Kindheit in Wohlen verfasst

Die Edition Unik will Menschen animieren, ihre Erinnerungen aufzuschreiben und als Buch zu veröffentlichen. Bei den meisten Teilnehmern entsteht ein Band. Nicht so bei Johannes Ludin, bei ihm fanden auf den 370 Seiten nur die ersten 12 Jahre Platz. «Irgendwann schreibe ich das nächste Kapitel», sagt er.

Chregi Hansen

Eigentlich hat er Wohlen, den Ort der Kindheit, schon lange verlassen, doch ganz losgelassen hat er nie. «Ich war immer wieder hier zu Besuch – vor allem in der Zeit, in der meine Eltern noch lebten. Und wenn ich durch die Strassen gehe, treffe ich jedes Mal auf bekannte Gesichter», erzählt Johannes Ludin. Gewisse Freundschaften von damals halten bis heute – so trifft er seinen alten Kumpel Peach Weber fast wöchentlich.

Der bekannte Komiker ist auch der Grund, dass vielen Wohlern der Name Johannes Ludin noch ein Begriff ist. Als Weber 1977 in Wohlen für den Einwohnerrat kandidierte, holte er als Einzelkandidat gleich zwei Sitze. Ludin gehörte damals zu den Unterzeichnenden der Wahlliste. «Eigentlich war abgemacht, dass der erste Unterzeichner auf der Liste den zweiten Sitz annimmt. Das wäre Albert Kuhn gewesen, der konnte dann aber nicht», erinnert sich Ludin.

«Nur» ein Eingebürgerter

Darum nahm er den freien Sitz an. Er politisierte vier Jahre im Dorfparlament, gehörte zu den Mitbegründern von «Eusi Lüüt», welche die herrschenden Verhältnisse in Wohlen kritisch hinterfragten. «Wir galten damals in der Gemeinde als Revoluzzer», lacht der heute 68-Jährige. Und erzählt die Anekdote, wie er vor einem Deflee des Militärs in Wohlen auf den Polizeiposten geführt wurde, weil man befürchtete, dass er den Anlass stören könnte. «Der Polizeichef persönlich erklärte mir, dass ich doch nur ein eingebürgerter Schweizer sei. Und ich vielleicht besser in Deutschland geblieben wäre.»

Diese Geschichte fand jetzt auch Eingang in sein Buch. Allerdings nur ins Vorwort. Denn in «Mal schauen» erzählt Ludin von seinem Leben als Kind. Platz fanden nur gerade die ersten 12 Jahre. «Ich habe wohl ein überdurchschnittliches Gedächtnis. Ich erinnere mich an so viele Szenen und Gesichter, habe noch immer ganz viele Daten und Ereignisse von damals im Kopf», erzählt er. Dazu kommt ein grosses Bilderarchiv mit Aufnahmen von früher. «Als ich anfng, eine Liste von Erinnerungen und Notizen anzulegen, war mir schnell klar, dass ein Buch nicht reicht. Ich habe mich darum auf die ersten Jahre bis zum Übertritt an die Bezirksschule konzentriert.»

In «Mal schauen» erzählt Ludin viele kurze Geschichten aus dem Leben eines Kindes in den 50er- und 60er-Jahren. Es sind kleine Kapitel über grosse Freundschaften, über das Miteinander im Quartier, vom ersten Schultag, aber auch von Ausfügen in die Umgebung, dem ersten Restaurantbesuch mit dem Vater oder dem Entdecken der Welt über ein altes Radio. Es ist aber auch die Geschichte eines Fremden – Ludins Familie stammt aus Deutschland, der Vater arbeitete als Elektroingenieur bei der Camille Bauer. Dass er nicht von hier ist, bekam er als Kind sehr oft zu spüren. «Ich wurde oft gehänselt und schikaniert», erinnert er sich. Etwas, was ihn geprägt hat im Leben – das Gespür für Ungerechtigkeiten.

Spaghetti auf dem Feuer gekocht

Trotz solch negativen Erlebnissen – Johannes Ludin hat noch immer eine enge Beziehung zu Wohlen. Von hier aus ist er in sein Leben eingetaucht. Hat Soziologie studiert. Und seine Liz-Arbeit auf der Schreibmaschine im alten Gemeindehaus geschrieben – Ludin war damals als erster Leiter des Freizeitvereins angestellt. Eine Zeit, an die er sich gerne erinnert. «Wir haben einmal ein Ferienlager für Kinder auf dem Spielplatz im Farnbühl organisiert. An einem Abend waren die Eltern eingeladen und ich kochte über dem Feuer Spaghetti für 150 Personen», berichtet er mit einem breiten Lächeln. Später arbeitete er in einem Jugendhaus in Basel, bei der Pro Juventute und amtierte viele Jahre als Geschäftsführer der Lungenliga des Kantons Zürich. Auch privat wechselte er mehrfach seinen Wohnort – heute lebt Ludin in Rupperswil. Eine Rückkehr nach Wohlen hingegen schloss er stets aus. «Aber ich komme immer wieder gerne zu Besuch hierher.»

Der Fähnrich mit dem Sonnenstich

Auch bei der Arbeit für sein Buch war er öfter im Freiamt. Zwar verfügt er über ein gutes Gedächtnis, aber bei gewissen Daten und Ereignissen war er sich nicht immer ganz sicher. Darum bat er um Einblicke in das Archiv des «Wohler Anzeigers». Und erhielt die Möglichkeit, in alten Ausgaben zu schmökern. «Es war sehr spannend zu sehen, wie die Zeitungen damals über das Leben im Freiamt berichtet haben», erklärt er. Oft sei er auch abgeschweift, habe alte Geschichten nachgelesen beispielsweise über die Gemeinderatswahl 1959. «Es war schon spannend, meine Erinnerungen als Kind mit den Berichten zu vergleichen.»

Als weiteres Beispiel nennt er etwa das grosse Kantonale Turnfest von 1959, für den damals Achtjährigen ein Ereignis, an das er sich noch bestens erinnert. Die Aufbauten wurden Anfang Juli auch für das Wohler Jugendfest genutzt. «Im ‹WA› wurde zwar davon berichtet, aber es gab kein Bild dazu», sagt er. Er selber hat noch viele Bilder im Kopf präsent. Etwa davon, wie der Fähnrich während der grossen Feier in der prallen Sonne einen Hitzestich erlitt und umkippte. «Dass ich das Archiv nutzen konnte, um meine Lücken zu füllen, dafür bin ich dem Verlag sehr dankbar», sagt er heute.

12 Exemplare für Kinder und Enkel

Ludin erzählt keine Lebensgeschichte im eigentlichen Sinn. Es sind Ereignisse und Erinnerungen aus seiner Kindheit, kleine Kapitel, in denen sich mancher Leser wiedererkennen dürfte. Geschrieben aus einer distanzierten und refektierten Perspektive. «Als ich erstmals vom Projekt Edition Unik erfuhr, wusste ich: Das ist etwas für mich», sagt er. Das Gute an diesem Projekt sei, dass man eine klare Struktur und einen Zeitrahmen erhalte und sich mit anderen austauschen kann. Das Schreiben an sich hat ihn schon immer fasziniert, genau wie Musik und Kultur allgemein, doch bisher hat er eher Gedichte und Liedtexte verfasst. Den ersten Band seiner Lebensgeschichte hat er jetzt seinen Kindern und Enkeln geschenkt. Es ist eine Ausgabe in 12 Exemplaren, unveröffentlicht.

Doch damit sei das Projekt noch lange nicht abgeschlossen. «Sobald ich wieder Zeit fnde, werde ich mich wieder ans Schreiben machen. Da die Erinnerungen dann noch umfassender sind, wird der nächste Band wohl nur bis zur RS reichen», lacht er. Eine höchst spannende Zeit, wie er sagt. Es ist die Zeit, als die Wohler Jugend die Pop- und Rockmusik entdeckte und im Dorf mit ihrem Auftreten und ihrem Aussehen für Aufregung sorgte. Mit Johannes Ludin mittendrin. Er hat eben noch viele Geschichten zu erzählen. Und die Wohler dürfen gespannt sein, was er noch alles zu Papier bringen wird.


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